Blog-Beitrag Nr. 2 – Februar 2018

Die Illusion der „Normalstudierenden“

Hannah Blumas & Eva Maria Lütticke

Studierende an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf

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Gleichheit – sein wie die Anderen und ja nicht negativ auffallen

Sowohl Lehrende als auch Studierende orientieren sich in der Hochschule an den „Normalstudierenden“. Doch sind diese „Normalstudierenden“ eine Illusion, die es gilt zu überwinden.

Student*innen halten sich während des Studiums vor allem an den vorgegebenen Modulplan und die vermeintlich perfekten Leistungen anderer Kommiliton*innen, um das Studium in vorgegebener Zeit möglichst erfolgreich abzuschließen. Abweichungen von dieser Norm werden ausschließlich als positiv bewertet, wenn sie eine Stärke im Sinne der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Anerkennung darstellen. Haben Studierende eindrucksvolle mathematische Fähigkeiten oder ein besonders präsentes Auftreten, werden sie von Lehrenden nie als Störfaktor in einer ansonsten als homogen angenommenen Studentenschaft angesehen.

Weicht jemand jedoch mit seiner studentischen Leistung oder Präsenz im umgekehrten Sinne vom angeblichen „Durchschnitt“ ab, wird dies als Schwäche betitelt, die es für eine harmonische Lernatmosphäre auszubessern gilt. Die Lehrenden schauen nicht potenzialorientiert, sondern defizitorientiert auf die Studentenschaft. Ein grundlegendes Problem.

Es sollten die Stärken wahrgenommen werden, anstatt sich auf die Schwächen zu fokussieren. Denn es sind insbesondere die unterschiedlichen Wissensstände, Lernfähigkeiten und Charaktere, die unsere Individualität als Studierende ausmachen. Wir alle zeichnen uns durch verschiedene persönliche, soziale und kulturelle Hintergründe aus. Bei aller Individualität geht es uns jedoch um einen kleinsten gemeinsamen Nenner – eine möglichst positive Lernerfahrung im Studium für jede*n von uns.

Ein Blick durch die „Heterogenitätsbrille“

Die Erkenntnis, dass homogene Gruppen unter Studierenden nicht existieren, ist der erste Schritt zur Annäherung an eine heterogenitätsorientierte Lehre. Bei jeder neuen Lehrveranstaltung bedarf es einer erhöhten Sensibilität des*der Lehrenden, um die spezifischen heterogenen Bedingungen von uns Student*innen zu identifizieren. Es mit einer Gruppe „Normalstudierender“ zu tun zu haben, die mit gleichen Voraussetzungen und Bedürfnissen genau ein Studienziel verfolgen, dürfte sich schnell als Wunschtraum herausstellen. Stattdessen würden bei genauerem Blick durch die „Heterogenitätsbrille“ unsere unterschiedlichen Sprachkenntnisse, Wohnsituationen und finanziellen sowie familiären Rahmenbedingungen sichtbar.

Feedbackkultur als Voraussetzung für erfolgreiches Lernen

Unser Studium setzt sich aus einer Vielzahl von Leistungsanforderungen zusammen. Um im Studienverlauf voranzukommen, dreht es sich ständig um Leistungsnachweise und Leistungsbeurteilungen. Gleichermaßen nehmen Lehrende oft nur die Leistungsheterogenität unter uns Studierenden wahr. Andere Heterogenitätsmerkmale werden übersehen. Dabei ist es gerade für unseren Lernerfolg entscheidend, dass unsere individuellen Voraussetzungen von Lehrenden wahrgenommen und in das Konzept ihrer Lehrveranstaltung eingebunden werden. Hierfür eignet sich aus unserer Sicht eine kurze Themeneinführung zu Beginn des Seminars, bei dem es zum Austausch über persönliche Erfahrungswerte zwischen Studierenden und Lehrenden kommt. Dieser kann als offene Diskussion in der Gruppe stattfinden, jedoch sollte immer auch die Möglichkeit zum anonymen Feedback bestehen. Aus unserer eigenen Erfahrung können wir bestätigen, dass eine anfängliche beiderseitige Vorstellungsrunde und die Frage nach den eigenen Zielen und Erwartungen an die Lehrveranstaltung helfen, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Dies ist die Grundlage für eine konstruktive Lernatmosphäre und eine offene Feedbackkultur. Dadurch wird nicht zuletzt unsere Motivation, sich an dem Seminar zu beteiligen, gesteigert. Schließlich sollte der größte gemeinsame Nenner sein, dass beide Seiten, Lehrende und Lernende, Verantwortung für die Gestaltung der Lehrveranstaltung übernehmen.

„Individualstudierende“ als Chance

Studierende und insbesondere Lehrende müssen die  Illusion der „Normalstudierenden“ aufgeben, um sich unvoreingenommen mit den „Individualstudierenden“ auseinanderzusetzen. So entstehen eine wechselseitige Feedbackkultur und eine Gemeinschaft aus Lehrenden und Studierenden, die selbst Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative ergreifen. Ungleichheit, nicht zu sein wie die Anderen, ist für uns also die Chance für eine reflektierte und progressive Lehre, die Lernende und Lehrende gleichermaßen bereichert.

 

Quellenangabe

Blumas, H./Lütticke E. M. (2018): Die Illusion der „Normalstudierenden“. het.blog – Perspektiven auf das Thema Heterogenität in Lehre und Studium, Blog-Beitrag Nr. 2, Potsdam: Netzwerk Studienqualität Brandenburg. (Online verfügbar unter: www.sqb-hetkom.de)

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz

 

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1 Kommentare

Sie schreiben: „Es mit einer Gruppe ‚Normalstudierender‘ zu tun zu haben, die mit gleichen Voraussetzungen und Bedürfnissen genau ein Studienziel verfolgen, dürfte sich schnell als Wunschtraum herausstellen.“ Einverstanden, was die Voraussetzungen und Bedürfnisse betrifft. Was das Studienziel betrifft, bin ich jedoch anderer Meinung: Sollte dieses nicht für alle dasselbe sein, nämlich das Studium möglichst gut zu schaffen?

Deshalb muss ich als Lehrender zwar die unterschiedlichen Voraussetzungen der Studierenden erkennen und akzeptieren, aber gleichzeitig gehe ich davon aus, dass alle dasselbe Ziel haben, und dass alle denselben Willen haben, gemeinsam zum Erfolg der Lehrveranstaltung beizutragen. Daher kann ich bestimmte Voraussetzungen wie Sprachkenntnisse oder familiäre Situation nicht als Entschuldigung dafür gelten lassen, dass Studierende nichts zum gemeinschaftlichen Erfolg der Lehrveranstaltung beitragen. Trittbrettfahrer in Projektteams zum Beispiel sind nicht entschuldbar.

Sie schreiben ja auch selbst von der „Gemeinschaft aus Lehrenden und Studierenden, die selbst Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative ergreifen.“ Dem kann ich voll zustimmen. Genau so stelle ich mir die ideale Lehrveranstaltung vor. Die Verantwortung, von der Sie sprechen, ist die Verantwortung für das Gelingen der Lehrveranstaltung. Die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung ist für mich eine Grundhaltung, die ich als Lehrender bei allen Studierenden voraussetze.

Als Lehrender muss ich einerseits die Heterogenität der Studierenden aufgrund unterschiedlicher Lebenssituationen, Lebensläufe und Vorkenntnissen wahrnehmen und als Chance begreifen. Andererseits — und das hat mir in Ihrem Artikel gefehlt — möchte ich bei aller Verschiedenheit ein für alle gleiches Studienziel und eine gleiche positive und intrinsisch motivierte Haltung zum Studium voraussetzen können.

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